Beitrag des
Gemeindearchivs Kißlegg zur Sonderbeilage der
Schwäbischen Zeitung vom 16. Mai 2024
zugleich
Begleittext zur Jahresausstellung 2024 des Pfarrarchivs
St. Gallus und Ulrich Kißlegg im Pfarrstadel Kißlegg
Kißlegg
blickt 2024 auf 1200 Jahre Geschichte zurück und feiert das
Jubiläum
seiner Ersterwähnung. Es geht gewissermaßen um den
„Tauftag“
des Fleckens im Jahr 824. Denn bestimmt ist der Ort noch deutlich
älter und hatte damals bereits Phasen früherer
menschlicher
Ansiedlung hinter sich. Die „Taufscheine“, die
beiden ersten
Dokumente, die der Siedlung am Unter- oder Zellersee einen Namen
zuordnen, sind zum Glück erhalten geblieben: Gerbald und
Landpreht
übertragen darin am 20. Juni 824 ihre Besitztümer in
dem
„Ratpoticella“ genannten Ort zu ihrem Seelenheil an
das Kloster
St. Gallen, um sie gegen einen Zins auf Lebenszeit zur
Bewirtschaftung wieder zurück zu erhalten.
Rund 750
Urkunden dieser Art aus der Zeit der Zeit der Merowinger, Karolinger
und Ottonen zwischen 720 und 960 nach Christus, zu denen auch die
beiden "Kißlegger" aus dem Jahr 824 gehören, finden
sich
im Stiftsarchiv St. Gallen, das zusammen mit der berühmten
Stiftsbibliothek St. Gallen wegen der reichen schriftlichen
Überlieferung aus frühester Zeit zum
Weltdokumentenerbe und der St.
Galler Stiftsbezirk insgesamt zum Weltkulturerbe der UNESCO
zählt.
Der Urkundenschatz des Klosters ist einzigartig in Europa. Beinahe
1000 Weiler, Dörfer und Städte in der Schweiz,
Deutschland,
Österreich und Frankreich werden hier in einer oder mehreren
Urkunden des Stiftsarchivs erstmals schriftlich fassbar.
Darüber
hinaus erschließt sich aus ihm die
frühmittelalterliche Lebenswelt
im Umfeld des Klosters und all seiner auswärtigen Besitzungen
–
wie zum Beispiel in Kißlegg …
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der Gemeinde
Kißlegg zum Jubiliäumsjahr 2024
1200
Jahre Kißlegg
Das 8.
Jahrhundert nach Christus. In unsere Gegend waren die Alemannen
eingedrungen und auf eine hier verbliebene keltisch-romanische
Bevölkerung gestoßen. Sie hatten zu jener Zeit die
christliche
Religion wohl zum großen Teil bereits angenommen.1
Die Franken, insbesondere die Hausmeier, dann Könige aus der
Familie
der Karolinger, gewannen damals endgültig die Oberhand
über die
Alemannen.2
Sie organisierten unter Pippin und Karl dem Großen ihr Reich
neu.
Nach der Zerschlagung des alemannischen Adels (746) ersetzten
Grafen die alemannischen Herzöge und verwalteten die
alemannischen
Gaue, bei uns den Nibelgau. Zu jener Zeit, im Jahr 766, erscheint das
heutige Leutkirch erstmals in einer Urkunde des Klosters St. Gallen
und zeigt sich darin als vorrangiger Gerichts- und Kirchort des
Nibelgaus.3
Das Martins-Patrozinium der dortigen Kirche deutet auf den
fränkischen Einfluss bei der Kirchengründung hin.4
Mehrere Leutpriester (im Gegensatz zu den Ordenspriestern),
wohl unter einem Erzpriester, kümmerten
sich hier um die
Seelsorge und betätigten sich zugleich als Schreiber
von
Urkunden, als Zeugen und als Missionare.5
Die
Franken forcierten die Missionierung. Sie begünstigten auch
die
Gründung von „Zellen“, Missionsposten mit
Wohnung und Kirche,
durch Zuweisung von Land an Priester, die dann die jeweilige
Nachbarschaft seelsorgerlich betreuen konnten.6
Auch Geistliche der Martinskirche Leutkirch gehörten dazu, wie
etwa
der 860 genannte Priester Hupold, Gründer der
„Hupoldescella“,
des heutigen Ortes Frauenzell.7
Gegen
Ende des 8. Jahrhunderts errichtete der Priester Ratpot drei Stunden
westlich seines Dienstortes Leutkirch eine solche
„Zelle” an
einem in späteren Quellen
„Untersee“ genannten
eiszeitlichen Gewässer. Der Untersee heißt heute
Zellersee; an ihn
schließt sich jetzt der Marktflecken Kißlegg an.
Von dem
Priester Ratpot hören wir erstmals in einer Urkunde von 766.8
Damals amtierte er als Zeuge bei einem Vertragsabschluss
über
die Schenkung der Söhne des Marulf an das Kloster St. Gallen.
Kurze
Zeit später, wohl zu Beginn des letzten Viertels des
8.
Jahrhunderts, scheint Ratpot seine Zelle gegründet zu haben.9
Das hierfür erforderliche Areal dürfte sich im Besitz
Ratpots
befunden haben.10
Vielleicht trat er bald darauf Land an nachfolgende Siedler ab, die
ihre Höfe und Häuser um die Zelle herum erstellen
konnten.11
Am Sonntag,
dem 4.
Mai des Jahres 788, „[…] im
20. Jahr der Regierung unseres ruhmreichen Herrn Carl, Königs
der
Franken [...]“
(Karls des Großen)
übertrug er seine Besitztümer
einschließlich eines von
ihm gegründeten Weilers
dem auch in
Oberschwaben reich begüterten Kloster St. Gallen, behielt
sich aber die Erträge hieraus auf Lebenszeit gegen
Zinszahlung
vor.12
Die Schenkung wurde in Leutkirch vor zwölf Zeugen beurkundet.13
Die cella
hatte sich
damals also offenbar
tatsächlich bereits zu
einer kleinen Ortschaft
entwickelt, die im Jahr 824 als Ratbotizella
bzw. Ratpotescella
in zwei Urkunden des Klosters St. Gallen erstmals namentlich
erwähnt
wird.14
Am
Montag, dem 20. Juni 824 nämlich übertrug zum einen Gerbald
dem Kloster St. Gallen seinen Besitz im Nibelgau, in Kißlegg,
mit
allem Zubehör. Er behielt sich aber die Rücknahme der
Güter auf
Lebenszeit gegen einen jährlichen Zins von einem halben
Solidus
vor.15
Ebenso übertrug am gleichen Tag Lantprecht
dem Kloster
St. Gallen für sein Seelenheil seinen ererbten Besitz in
Kißlegg
(Ratpotescella) mit allem Zubehör. Auch er behielt sich aber
für
sich und seine Nachkommenschaft die Rücknahme der
Güter gegen
einen jährlichen Zins von vier Denaren vor.16
Dass das
im 9. Jahrhundert wiederholt erwähnte Ratpoticella mit dem
heutigen
Ort Kißlegg identisch ist, erkannte erst der
Allgäu-Historiker Dr.
Franz Ludwig Baumann Ende des 19. Jahrhunderts und legte dafür
mehrere einleuchtende Begründungen vor.17
Die
Schenkung von eigenem Grundbesitz an ein Kloster, das dem Schenker
das Land zur Bewirtschaftung als Leihegut zurückgab (precaria
oblata), war damals eine weit verbreitete Praxis.18
Die Beweggründe waren vielfältig; die
Rechtssicherheit unter dem
Schutz des Klosters, aber auch die Sorge um das eigene Seelenheil
mögen eine Rolle gespielt haben.19
Entsprechend hieß es bei Ratpots eigener Schenkung im Jahr
788:
„Möge es bei jedem so weit kommen, dass er mit den
Ohren höre und
mit der Tat erfülle, was der Herr mit eigenem Munde
ausgesprochen
hat, indem er sagte: Gebet, und es wird euch gegeben werden und
wiederum: Gebet Almosen und alle Welt gehört euch.“
In einer
weiteren, die cella Ratpoti,
mithin Kißlegg
betreffenden Urkunde, die in der Zeit zwischen dem 12. September 826
und dem 22. Januar 828 entstanden ist,20
übertrug Rachilt dem Kloster St.
Gallen gemeinsam mit
ihrem Anwalt (advocatus)Scrutolf
für
ihr und ihrer Mutter Seelenheil eine Hufe des Fruachonolf
in
Leutkirch mit allem Zubehör; unter dem Vorbehalt, dass sie die
Hufe
auf Lebenszeit an sich zurücknehmen durfte und in der cella
Ratpoti einen angemessenen Wohnplatz sowie den für
einen Mönch
üblichen Unterhalt und Kleidung erhalten sollte.21
Rachilt bestimmte weiterhin, dass ihre Mutter auf Wunsch
ebendort leben durfte und dann dieselben Leistungen erhalten
sollte. Demnach nutzte das Kloster die Zelle als
Versorgungseinrichtung, mithin als
„Alterswohnheim” für
wohlhabende Frauen, die im Gegenzug das Kloster aus ihrem
Vermögen begabten.22
Dafür gibt es einen weiteren Nachweis aus dem Jahr 849,23
als der Priester Landpreht sich als Gegenleistung für eine
Schenkung
von Grundbesitz unter anderem Wohnung und Unterhalt für seine
Nichte
Diotpirc in der cella Ratpoti wie für einen
Mönch auf deren
Lebenszeit zusichern ließ.24
Bereits
die Gründung der "Zelle" durch den Priester Ratpot im 8.
Jahrhundert dürfte die Errichtung einer Kirche beinhaltet oder
sogar
bedingt haben.25 849 besaß
der Priester
Landpreht
Wohnhaus und Kapelle - aller
Wahrscheinlichkeit nach - in Ratpoticella.26
St. Galler Urkunden aus den Jahren 861 und 868 berichten über
Zinszahlungen aus Rot und Rempertshofen "ad cellam
Ratpoti", die dem Kloster St. Gallen gehört, bzw. "ad
missam sancti Martini confessoris Christi in Ratpoticella".27
Diese Formulierungen werden als indirekte Ersterwähnung der
Kißlegger Kirche gedeutet28,
als "Inbegriff der Heiligenpflege oder Kirchenfabrik des
Kißlegger Kirchleins, das als Tochterkirche der St.
Martins-Urkirche in Leutkirch ebenfalls dem hl. Martin geweiht war."29
Durch die Schenkung an das Kloster St. Gallen war die Kirche dessen
Eigenkirche geworden und gehörte noch um 1266 zu den
Patronatskirchen des Klosters.30
Die Pfarrei war entstanden.31
Es verwundert nicht, dass der Gründer des Klosters, der
heilige
Gallus, den wohl ursprünglichen
Patron Martin bald verdrängte. Zuletzt ist St. Gallen 1353 als
Patronatsherr genannt mit der Bemerkung, dass Schellenberg das Recht
für sich beanspruchte.32
Weitere
Schenkungen von Gütern, Leuten und Zinsen an das Kloster aus
dem Ort
Ratpoticella und seiner Umgebung (824, 848, 861)33
nahm das Kloster um 850 zum Anlass, in Ratpoticella (1135 Celle)
einen Kell- oder Meierhof als Zentrum seiner Besitzungen im
westlichen Nibelgau, wie es das nahegelegene Wangen für den
Argengau
geworden war, einzurichten. 34
An der Spitze stand als Verwalter der Meier (villicus),
der
den von Leibeigenen und Knechten geführten eigenen
Wirtschaftsbetrieb des Herrenhofs (Salland) leitete und
gleichzeitig Abgaben der hörigen Grundholden
(Halbfreie) in den
umliegenden Höfen in Empfang nahm und ihnen
Frondienste beim
Herrenhof abverlangte.35
Eine
benachbarte Ministerialenfamilie führte nachweisbar ab dem 12.
Jahrhundert die Aufsicht über diesen Meierhof.
Sie besaß – vielleicht auch schon seit dem 9. Jh.
– eine
Viertelstunde nordwestlich der cella
einen eigenen Herrenhof, dessen Name möglicherweise von einem
der
ganz frühen Mitglieder dieser Familie abgeleitet war, von
einem der
in den Nibelgau-Urkunden des Klosters St. Gallen als Zeugen,
Schöffen und Schenker genannten Kisilolt oder
Kisilhar.36
Die Angehörigen dieser Familie nannten sich seit dem 12. und
frühen
13. Jahrhundert, wohl im Zuge der Errichtung einer Burg, von
Kisilegge. Ihre Tätigkeit als klösterliche Maier im
Ort Zell führte
nach und nach zur Übertragung ihres Namens auf den Ort (1135,
um
1200 und 1264/70 noch cella
bzw. celle37,
dann 1345 Kiselegg
celle38,
1394 im
Dorffe zu Celle, in dem Ampte, das zu der Vesten Kyslegg gehört39,
1399 und 1400 Zell
im Amt40,
1450 Zell
bei Kißlegg41,
1467 Zell im
Dorf bei
Kislegg42,
1490 Kislegg
Zell im Dorf43,
1497 Kislegg
Zell im Markt44,
1525 nochmals Zell
im Markt45,
1587 wieder Kißlegg
Zell im Marckht.46 Bis
heute bewahrt der „Zellersee”
in seinem Namen die geschichtlichen Ursprünge unseres
Ortes.
Als
frühester urkundlich fassbarer Vertreter des Geschlechts gilt
der
1135 noch ohne Familien- bzw. Herkunftsname erwähnte villicus
des Klosters in Zell, Walther47.
Zwischen 1120 und 1189 nennen Totenbücher der Klöster
Reichenau und
St. Gallen den Laien Pertolt de Kisi[lekke],48
die Laienbrüder Adalbert und Cunthram, wiederum einen Walther
sowie
Berthold von Kißlegg (de Kisilegge bzw. de Chisilecke).49
Die
Familie gilt als eine der wichtigsten Ministerialengeschlechter der
Abtei nördlich des Bodensees, mit teils weit von ihrer
Stammburg
entfernten Besitzungen (Wasserburg am Bodensee, Hindelang,
Deuchelried, Wangen-Epplings). Ihre angesehene Stellung zeigt sich in
ihren engen Beziehungen zu Reichsministerialen und Altadeligen.50
Burkhard von Kißlegg befand sich 1241 zusammen mit seinem
Sohn im
Gefolge König Konrads IV.51;
außerdem erscheinen im 13. Jahrhundert noch ein
älterer (1227,
1256)52
und ein jüngerer (1267, 1280)53
Berthold, letzterer mit seinem Bruder Burkhard (1269, 1274)54.
Als Mönche aus der Familie sind damals außerdem
frater H. de
Kisilegge (Kloster Paradies, 1275) und Dietrich von Kißlegg
(Kloster
Salem, 1274)55
genannt.
Berthold
(Bero) von Kißlegg verkaufte im Jahr 1280 die Herrschaft
Wasserburg
an die Brüder Ulrich und Marquard von Schellenberg,
königliche
Landvögte in Oberschwaben. Marquard verheiratete
seinen Sohn
Tölzer (I.) um 1280 mit der Erbtocher Bertholds, des letzten
Herrn
von Kißlegg. Damit ging Kißlegg an das Haus
Schellenberg
über.56
Gemeindearchiv
Kißlegg, 16.08.2024/tw
Gerbald
überträgt seinen Besitz in Ratbotizella an das
Kloster St. Gallen –
824 Juni 20
St.
Gallen, Stiftsarchiv, II 52 (Privaturkunde).
https://www.e-chartae.ch/de/charters/view/583
Lantpret
überträgt seinen Besitz in Ratpotescella an das
Kloster St. Gallen
– 824 Juni 20
St.
Gallen, Stiftsarchiv, II 55 (Privaturkunde).
https://www.e-chartae.ch/de/charters/view/401
Anmerkungen und
Nachweise
1Ernst,
Richard: Zur Frühgeschichte von Kißlegg. Von der
ersten menschlichen Siedlung bis zur Übernahme der
Herrschaft Kißlegg durch die Herren von Schellenberg.
Kißlegg 1988 (Beiträge zur Geschichte
Kißleggs, 1), S. 16 und S. 33; siehe auch Oberholzer,
Paul: Vom Eigenkirchenwesen zum Patronatsrecht. Leutekirchen des
Klosters St. Gallen im Früh- und Hochmittelalter. St. Gallen
2002, S. 35; ebenso De
Kegel-Schorer, Catherine: Die Freien auf Leutkircher
Heide. Ursprung, Ausformung und Erosion einer oberdeutschen
Freibauerngenossenschaft. Epfendorf 2007, S. 37 f.
2
Die Gründung
des
Bistums Konstanz (in der Zeit nach 600) erfolgte unter Mitwirkung der
alemannischen Herzöge, in einer Zeit
größerer Unabhängigkeit der Alemannen von
den Franken. Die Übertragung von Reliquien aus der
Windischer Bischofskirche nach Konstanz durch König Dagobert
(629/30) lässt eine gewisse Duldung oder
Unterstützung dieser Aktivitäten durch die Merowinger
erkennen. Noch 708 und danach unterstützen
Alemannenherzog Gotfried und der alemannische Adel auch das entstehende
Kloster St. Gallen durch Schenkungen. Pirmin gründet das
Kloster Reichenau im Jahr 724 hingegen auf der Basis eines Schutzbriefs
des Hausmeiers Karl Martell mit gleichzeitiger Zuweisung von
Königsland und mehreren alemannischen Dörfern im
Umkreis der Insel. Vielleicht ist damit die Absicht der
Karolinger verbunden, mit einem geistlichen zugleich auch ein
politisches Zentrum des Frankenreichs in Alemannien zu etablieren.
Zunächst jedoch gewinnen die alemannischen Herzöge
und der Konstanzer Bischof die Oberhand auch über die
Reichenau, so dass Pirmin schon bald die Insel verlassen muss und durch
den Alemannen Eddo ersetzt wird. Nach der Zerschlagung eines
Alemannenaufstands durch die Franken im Jahr 746 bei Cannstatt
kommen die Reichenau, das Bistum Konstanz und im Gefolge auch das
Kloster St. Gallen mehr und mehr unter die Kontrolle der Franken. In
aller Kürze hierzu: Reinhardt,
Rudolf
und Polonyi, Andrea: Die Kirche in der
Diözese Rottenburg-Stuttgart von der
Christianisierung bis in die Gegenwart. I. Die frühe Zeit.
Neuried
1989, S. 12-25. Oberholzer,
S. 43, bestätigt, bis 746 sei die Entwicklung des Klosters St.
Gallen durch den Widerstand des alemannischen Adels gegen den
karolingischen Einfluss geprägt gewesen; danach sei die
Abtei in den Aufbau der karolingischen Herrschaft eingebunden
worden. Die Absetzung von Abt Otmar um 759 markiere den Beginn einer
noch engeren Anbindung an die fränkische Herrschaft.
Bezüglich der Ansiedlung der Alemannen spricht Oberholzer,
S. 35, von einer Zuwendung der romanischen Oberschicht zu den
selbständigen, den Einfluss der Franken begrenzenden Alemannen
und einem dadurch bedingten vermehrten
„Einsickern” alemannischer Siedler im 7.
Jahrhundert auch bis in die Nordostschweiz. Im Nibelgau sieht Oberholzer,
S. 226, „älteres Ausbauland, das im Lauf des 7.
Jahrhunderts unter fränkischer Mitwirkung besiedelt
worden war.“
4 Ernst S. 33; die Martinskircheim heutigen Leutkirch
habe zunächst das alleinige Taufrecht im Gau besessen, und
sei, wie die meisten, auf fränkischen Einfluss
zurückgehenden Urkirchen, dem hl. Martin geweiht gewesen. Die
neuere Forschung geht noch weiter, sie spricht nicht nur von
fränkischem Einfluss, sondern davon, dass es sich,
wie zu jener Zeit häufig, auch bei der St.-Martins-Kirche
Leutkirch (797 erstmals als Martinskirche erwähnt) wohl um
eine königliche Eigenkirche handelte, die von einem
Beauftragten des Königs erstellt worden sein könnte,
im Gegensatz zu einer nach römisch-kirchlichem Muster (mithin
durch den zuständigen Bischof) installierten Pfarrkirche oder
einer genossenschaftlichen Kirchengründung.
Öffentlich, "Leutekirche" (860: ecclesia publica,
Stiftsarchiv St. Gallen (StiA SG), Privaturkunden, III 233),
könne sie trotzdem gewesen sein: De Kegel-Schorer,
S. 36.
5 Über die
Leutpriester und Erzpriester siehe Ernst, S. 33,
und Baumann, Franz Ludwig: Geschichte des
Allgäus. Band 1: Von der ältesten Zeit bis zur Zeit
der schwäbischen Herzöge (1268). Kempten
(Kösel) 1883, S. 103.
6 Ernst, S. 33
und S. 40; denfränkischen
Einfluss
bestätigen auch Oberholzer,
S. 227, und De
Kegel-Schorer, S. 36 f.
7 Ernst, S.
40;
StiA SG, Privaturkunden, III 241; Transkription in Wartmann,
Hermann: Urkundenbuch der Abtei Sanct Gallen. Theil II. Jahr
840-920. Zürich, 1866, S. 86 (Nr. 470). Zu den rodenden
und/oder Zellen gründenden Priestern im Nibelgau
zählt Schneider
(Schneider,
Wilhelm: Der Erwerb und Ausbau der Ratpoti cella
(Kißlegg) durch das Kloster St. Gallen. In: ders.: Arbeiten
zur alamannischen Frühgeschichte, Heft XVIII:
Arbeiten zur Kirchengeschichte, Teil II. Tübingen 1991, S.
235–266), S. 256, neben Ratpot die Priester Hupold (Hupoldescella,
gedeutet als das heutige Frauenzell), Cunzo (Karbach),
Landpreht (Besitz in Ratpoticella; siehe auch Anm. 11) und Meginbert (cella
Meginberti; dieser hatte Besitz in Sconinperac,
mit der eher fraglichen Zuordnung zu Schönenberg bei
Kißlegg).
Zur
Verwendung des Begriffs "Zelle" nicht nur für die
Mönchszelle, sondern auch für Missions- und
Pastorationsstationen von Leutpriestern siehe ausführlich Baumann,
Geschichte des Allgäus, Band I, S. 99 f.
8 StiA SG,
Privaturkunden,
Bremen 11. Transkription in Wartmann,
Hermann: Urkundenbuch
der Abtei Sanct Gallen. Theil I. Jahr 700-840. Zürich,
1863, S. 49
f. (Nr. 49).
9 Ernst, S.
35.
Begründet wird die Datierung mit den Funktionen, in denen
Ratpot in drei Urkunden aus den Jahren 766, 788 und 812 erscheint:
zunächst als Priester und Zeuge 766, vielleicht im Alter von
etwa 30 Jahren, dann als Priester und Tradent seiner Güter im
Jahr 788, was einen gewissen „Abschluss“
seiner aktiven Tätigkeit markiert haben könnte;
vielleicht als Mittfünfziger, auch wenn er noch an den
weiteren Ausbau seiner Siedlung dachte, und zuletzt als Verfasser einer
Urkunde im Jahr 812 (StiA SG, Privaturkunden, I 190 und 191.
Transkription in Wartmann,
Theil I, S. 200, Nr. 210) in einem Alter von etwa 75 Jahren. Plausibel,
aber durchaus nicht sicher erscheint die Annahme, dass alle drei
genannten Ratpot ein und dieselbe Person gewesen seien: eigene
Auffassung TW 2023.
10 Ratpot hatte es
wohl
von
fränkischer Seite erhalten: Ernst S. 40.
Als Besitzer dieses Areals dürfte Ratpot zum
Königszinser und/oder zum Grafenzinser geworden sein: Oberholzer,
S. 47 und 226 und Borgolte,
Grafschaften, S. 177.
11 Ernst S. 36,
40 f. und 44. Zu den 824 und 849 genannten Besitztümern
jeweils eines Landpreht im Umfeld der cella
resümiert Ernst,
man werde sich „… bezüglich der Frage der
Beziehungen der cella zu dem Anwesen des Landpreht
mit einem non liquet abfinden
müssen.“
12
StiA
SG, Privaturkunden, I 102. Transkription in Wartmann, Theil
I, S. 110 f. (Nr. 117). Übersetzung ins Deutsche beiErnst, S. 30.
13 Der Besitz
Ratpots und
die Übergabe desselben an das Kloster werden in der Urkunde
wie folgt beschrieben: „… Ich
(Ratpot) übergebe daher an das Kloster des Hl. Gallus ...
alles, was ich am heutigen Tag in Nibulgauia besitze, mit Ausnahme des
Kirchenlandes und einiger Jauchart, über die ich die Nachbarn
und die Abgesandten jenes Klosters geführt habe; das
übrige gebe ich ... an jenes Kloster zu dauerndem Besitz,
nämlich Gebäude, Ländereien,
Wohnhäuser, Felder, Wiesen, Wälder, Wege,
Gewässer und Wasserabläufe, Bewegliches und
Unbewegliches, Angebautes und Nichtangebautes; und folgende
Hörige: Fruahanolf, Zilla, Lantheri, Willibold, Lanthilt,
Tetta, Totocha, Emhilt, Cozhilt … und in gleicher Weise
einen Weiler, den ich mit meinen eigenen Händen geschaffen
habe, oder was alles ich dort noch werde erarbeiten
können; aber mit der Maßgabe, dass ich Zeit meines
Lebens jene Sachen wieder an mich nehme und dafür einen
jährlichen Zins leiste…“ (Übersetzung: Ernst, S. 30).
14
Wobei sich die
Frage,
ob
sich die in der Urkunde von 788 beschriebenen Güter auch auf
die Markung dercella
des Ratpot beziehen, nicht mit Sicherheit lösen
lässt: Richard Ernst verweist (S. 33)
darauf, dass "in
Nibulgauia“ zweierlei bedeuten kann: den Gau selbst, aber
auch den Hauptort des Gaus, Leutkirch. Zu jener Zeit waren
zwei Namen für diesen Hauptort üblich: villa
Nibulgauva (und Varianten) und Ufhova
(Aufhofen). Wenn mit „Nibelgau“ der Gau oder die
den geschlossenen Ort Leutkirch umgebende Markung gemeint war, so fügte der
jeweilige Schreiber der Urkunde häufig
die Worte marcha (Markung) oder pagus
(Gau) bei, im Gegensatz zum
Bestimmungswortvilla beim Ort
Leutkirch. In besagter
Urkunde von 788 fehlen
diese Bezeichnungen ganz, sodass beide Möglichkeiten offen bleiben. Wäre mit dem
Besitz Ratpots „in Nibulgauia“
Besitz im Gau gemeint, so könne, meint R. Ernst, auch
die Zelle inbegriffen sein. Dafür spreche die
Erwähnung des
„Kirchenlandes“, das Ratpot von der Schenkung
ausnimmt. Die Kirche in Leutkirch sei
herrschaftlich; sie könne
damit nicht gemeint gewesen sein. Außerdem dürfte damals noch kein
Bedürfnis für eine weitere Kirche in Leutkirch
bestanden haben. Wahrscheinlicher sei,
dass das „Kirchenland“ die Grundstücke bei
der cella bezeichne. Bradler
und Schneider
verorten die terra ecclesiastica hingegen in oder
bei Leutkirch, als der dortigen Leutekirche oder
königlichen Eigenkirche St. Martin zugehörig; so auch De
Kegel-Schorer, S. 37 Anm. 37: Die terra
ecclesiastica aus dem Besitz des Priesters Ratpot
müsse nicht auf dessen Herkunft aus der Sippe eines
Eigenkirchenherrn hinweisen, er könne sie auch als
(königliche) Benefizialleihe innegehabt haben. Ebenso
argumentieren Bradler (Bradler,
Günther: Die Landschaftsnamen Allgäu und Oberschwaben
in geographischer und historischer Sicht. (= Göppinger
Akademische Beiträge. Nr. 77). Göppingen
1973, S. 70 und: Studien zur Geschichte der Ministerialität im
Allgäu und in Oberschwaben. Göppingen 1973, S. 98)
sowie Schneider
(S. 237): mit der terra ecclesiastica sei zur
Ausstattung der Leutkircher Martinskirche gehörendes, dem
Tradenten als Leihgut (Prekarie), nicht als Eigentum
überlassenes Land gemeint gewesen. Sicher nicht in oder in
unmittelbarer Nähe von Leutkirch sei, so Ernst, der
Weiler zu suchen, den Ratpot mit seinen eigenen Händen
geschaffen hat. Dass Ratpot neben seiner cella
und der zugehörigen Ortschaft – beides 824 erstmals
unter dem Namen Ratpoticella erwähnt – noch einen
weiteren Weiler geschaffen habe, erscheine unwahrscheinlich. So
dürfe mit ziemlicher Sicherheit vermutet werden, dass der 788
genannte, von Ratpot gegründete Weiler mit dem
späteren Ort Ratpoticella identisch ist. Im Jahr 788 wird der
Besitz des Gründers genannt und wohl auch die
Gründung selbst – der von Ratpot mit eigenen
Händen geschaffene Weiler – aber eben nicht
namentlich. Borgolte
(Borgolte,
Michael: Geschichte der Grafschaften Alemanniens in
fränkischer Zeit. Sigmaringen 1984), S. 176, und Schneider, S.
238 bestätigen die Annahme, dass der 788 tradierte Weiler des
Ratpot und der ab 824 genannte Weiler Ratpoticella wohl ein und
denselben Ort darstellen; Oberholzer,
S. 226, schließt sich dieser Meinung an.
15 StiA SG,
Privaturkunden,
II 52. Transkription in Wartmann, Theil I, S. 262 (Nr. 279).
16 StiA SG,
Privaturkunden,
II 55. Transkription in Wartmann, Theil I, S. 263 (Nr. 280).
17
Den Nachweis,
dass Ratpoticella die
Keimzelle des heutigen Kißlegg
darstellt, führte Franz Ludwig Baumann
offenbar mit der Urkunde StiA SG, Privaturkunden, III 174 vom 24./22.
Mai 847/848 (Transkription in Wartmann,
Theil II, S. 26, Nr. 405), einer Tauschurkunde, mit der Reginbold mit
seinen Söhnen von ihm erworbenen und erarbeiteten Besitz im
Gebiet von Ratpoticella, inter Zuzzes et Luitirinsehes Pahc
gegen Besitz des Klosters St. Gallen in Enenhoven
und bei Leutkirch eintauscht. Baumann
nahm
an, dass Zuzzes in
„Zaisenhofen“ weiter lebt und mit
„Lauterseebach“ der Bach des Lautersees
südwestlich von Kißlegg gemeint ist: Baumann, Franz
Ludwig: Die Gaugrafschaften im Wirtembergischen Schwaben. Ein Beitrag
zur historischen Geographie Deutschlands. Stuttgart 1879, S. 36. Der
Lauterseebach ist allerdings kein markantes Gewässer. Gütter
(Gütter,
Adolf: Schreiben an das Gemeindearchiv Kißlegg von 2003)
bestreitet den etymologischen Zusammenhang von „Zuzzes“
und dem in „Zaisenhofen“ steckenden Personennamen
„Zeizzo“. Allerdings geht er
davon aus, dass Luitirinsehes Pahc eindeutig mit
Lautersee bei Kißlegg identifiziert werden kann; es gebe
schlichtweg keinen anderen Ort dieses Namens.
Es
bleibt ein Fragezeichen: ist „Ratpoticella“
wirklich mit dem hoch- und spätmittelalterlichen
„Zell bei Kißlegg“, dem heutigen
Kißlegg, identisch? Es wird, mindestens so lange
ergänzende archäologische Befunde nicht vorhanden
sind, nicht eindeutig zu klären sein. So lange muss es
heißen: nach heutigem Forschungsstand ist der Ort
Ratpoticella in dem späteren „Zell im
Markt” und heutigen Kißlegg
aufgegangen: eigene Auffassung TW 2023.
19 Die Motivation
für die
Schenker,ihr Land an das Kloster zu übertragen, kann sich aus
politischen, wirtschaftlichen,
rechtlichen und gesellschaftlich-familiären Umständen
ergeben haben. Die wirtschaftliche Bedeutung unterschied
sich für Kloster und Tradent, je nachdem, ob es sich um
Altsiedelland oder um Rodungsland handelte (Oberholzer,
S. 43). Die Schenkung von Kißlegg (ab 788) brachte
für die Mönche die Erfordernis weiterer
Rodungstätigkeit mit sich, anders als bei den weiteren, in
dieser Zeit erworbenen und auf Altsiedelland befindlichen
Gütern und Kirchen (Kirchzarten, Wasserburg, Egringen).
Letztere waren bereits rentabel und bedeuteten eine unmittelbare
wirtschaftliche Stärkung für das Kloster. Der Weiler
des Ratpot hingegen sei zum Zeitpunkt der Schenkung 788 gerade erst
urbar gemacht und besiedelt worden (S. 44, 47 und S. 228). Der
Landesausbau war mit großem Aufwand verbunden und
überstieg die Kapazität kleiner Grundherren wie des
Priesters Ratpot. Kißlegg sei für das Kloster zwar
eine entsprechende Herausforderung gewesen, dem es sich aufgrund des
ausgedehnten Grundbesitzes im Nibelgau aber habe stellen
können (S. 47). In politischer Hinsicht trage Ratpots
Siedlung den Zug fränkischer Förderung des
Gallusklosters, der Einbindung in die fränkische
Reichspolitik, an sich. Auch habe Abt Werdo (reg. 784 - 812) intensiv
den Ausbau der klösterlichen Grundherrschaft verfolgt (S. 47;
S. 228). Das alemannische Erbrecht habe zu jener Zeit für jede
Generation die erneute Aufteilung der ererbten Güter unter den
Söhnen des Hausherrn vorgesehen. In zweiter Linie sollten
weitere männliche Verwandte des Vaters erben. Die Mutterseite
sei unberücksichtigt geblieben. Familiäre
Unstimmigkeiten oder das Bestreben, das Gut ungeteilt in die Zukunft zu
führen, könnten daher möglicherweise auch
Anlass für eine Schenkung geworden sein (Oberholzer,
S. 48). Neben der diesseitigen sei den Menschen schon auch die
jenseitige Lebenssicherung, das stets an erster Stelle
genannte das Seelenheil, wichtig gewesen. Angesichts der
politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sei dies als
Motivation für die Schenkung aber aber als zweitrangig
einzustufen (S. 48). Bestimmt hatte auch die geistliche Bedeutung St.
Gallens mit dem Grab des als Heiligen verehrten Gallus einen
Einfluss auf die Entscheidung zur Schenkung, auch das
Bewusstsein, als Schenker „ewig” in das Gebet der
Mönche eingeschlossen zu sein. Schneider, S.
261 f., sieht gerade bei den rodenden und Zellen
gründenden Priestern, die wohl meistens für
Nachkommen nicht zu sorgen hatten, den ihnen gut anstehenden
frommen Eifer als wichtiges Motiv, zumal ihr Werk dadurch in gute
Hände gekommen sei und Bestand haben konnte. Priester
hätten aber auch nahe Angehörige in ihren Schenkungen
berücksichtigt. Praktisch habe sich durch die Schenkung nicht
viel verändert, da der Tradent sein Gut gegen geringen Zins
weiter nutzen habe können. Da die Schenkung damals schon
selbstverständlich Schriftlichkeit in Form von wohl meist zwei
Ausfertigungen erlangte (Erhart, Peter: Ein
Archiv in 36 Kapiteln. In: vvaldo vi – Verschleppte Zettel.
St. Gallen 2024, S. 97 f.) hatte der Schenker zu guter Letzt auch eine
Gewissheit, dass seine Ansprüche am Schenkungsgut dauerhaft im
Kloster hinterlegt waren und im Streitfall darauf
zurückgegriffen werden konnte.
20 StiA SG,
Privaturkunden,
II 82. Transkription in Wartmann,
Theil I, S. 288 (Nr. 311).
21 Ins Deutsche
übersetzt heißt es in der Urkunde: „Und in
der Cella Ratpoti soll ich nach dem Recht
desselben Klosters einen angemessenen Platz zum Wohnen
erhalten, und es soll mir Nahrung und Kleidung entsprechend der eines
Mönches gegeben werden. Und wenn meine Mutter dort zu wohnen
wünschen sollte, soll sie es in gleicher Weise
haben.“ (Übersetzung in Jordan,
Gesine: „Nichts als Nahrung und Kleidung“. Laien
und Kleriker als Wohngäste bei den Mönchen von St.
Gallen und Redon (8. und 9. Jahrhundert) (Europa im Mittelalter.
Abhandlungen und Beiträge zur historischen Komparatistik, Band
9, hrsg. von Michael Borgolte). Berlin 2007, S. 115).
22 Jordan,
Laien
und Kleriker, S. 114-117. Dies.: Wohnen am heiligen Ort. Besitz und
Handlungsspielraum von Frauen im frühen Mittelalter
am Beispiel einer quasimonastischen Lebensform. In:
Blickpunkt: Frauen- und Geschlechterstudien. Hrsg. von
Bärbel Miemietz unter Mitarbeit von Anne Altmayer.
Saarbrücken 2003, S. 169. Nach Gesine Jordan
könnte es so gewesen, dass die cella Ratpoti
im 9. Jahrhundert eine mit Nonnen besetzte, vom Mutterkloster St.
Gallen abhängige Dependenz war, die die Aufnahme von Laiinnen
anbot, ein Angebot, das auch genutzt wurde. Borgolte,
Grafschaften, S. 176, nennt die cella Ratpoti
„eine St. Galler Dependenz mit Versorgungseinrichtungen
für wohlhabende Damen". Schneider
(S.
252) meint, die Übernahme von Aufgaben eines Altersheimes
gegen entsprechende Landvergabe spreche für den guten
Ruf der Zelle und dafür, dass dort ein rühriger
Verwalter gesessen sein könnte, der sich auch gegen
übermäßige Ansprüche abzusichern
verstanden habe. Nach Erhart
(Erhart,
Peter u. a.: vvaldo v: Nahrung und Kleidung. St. Gallen 2023), S. 40 u.
74-76, ließen sich männliche Schenker, die vom
Kloster versorgt werden wollten, in der Regel in St. Gallen nieder;
für weibliche Wohngäste hingegen scheine das Kloster
mit der cella Ratpoti eine Unterkunft
nördlich des Bodensees unterhalten zu haben, die
hierfür über genügend Einkünfte
verfügte.
23 StiA SG,
Privaturkunden,
Bremen 26. Transkription in Wartmann,
Theil II, S. 27 (Nr. 406): Abt Grimald verleiht an den Priester
Lantpreht den von diesem durch Kauf von Chancho, Witric und
Wolaliuba mit eigenem Geld erworbenen und mit seinem Advocatus
Engilbold an das Kloster St. Gallen übertragenen Besitz im
Nibelgau. Lantpreht leistet dafür einen jährlichen
Zins von einem Denar. Zudem werden ihm vier ausgewählte
Hörige, zwei Männer und zwei Frauen,
überlassen. Nach seinem Tod soll seine Nichte/Verwandte
Diotpirc die Güter zum Nießbrauch auf Lebenszeit
besitzen und dafür jährlich einen Zins von einem
Solidus leisten. Verzichtet Diotpirc auf die Güter, soll sie
in Kißlegg nach den Möglichkeiten des Ortes einen
Wohnplatz und eine Mönchspfründe erhalten. Der
entsprechende Passus lautet übersetzt: „...Dann soll
sie bei der cella Ratpoti
Wohnung und eine Pfründe wie ein Mönch,
entsprechend den Möglichkeiten des Ortes,
für die Zeit ihres Lebens haben…“
(Übersetzung in Jordan,
Laien und Kleriker, S. 116).
24 Rachilt stand
dem
Kloster Jahre vor ihrer Schenkung eine Zeit lang feindlich
gegenüber: Sie und ihr Sohn Heripreht leugneten den Anspruch
des Klosters auf Güter in Schönenberg, die es Jahre
zuvor von Albaric, dem Bruder Rachilts, als Schenkung erhalten hatte.
Abt Gozbert führte deswegen Klage bei König Ludwig,
der dem Grafen Waning und dem Königsvasallen Ruadpert befahl,
eine inquisitorische Untersuchung vorzunehmen, ob diese Güter
dem Kloster gehören. Auf der dazu einberufenen
Versammlung bestätigten die Zeugen unter Eid, dass
Albaric die Güter an das Kloster übertragen hatte,
dass die Mönche diese Güter zu Zeiten König
Karls 20 Jahre gegen Zins besaßen und dass sie diese
Güter auch nach Albarics Tod innehatten, bis Rachilt und
Heripreht sie gewaltsam entwendeten. Als diese Zeugen auftraten,
weigerten sich Rachilt und Heripreht, deren Zeugnis anzuerkennen, und
entzogen sich der Gerichtsversammlung, weshalb gerichtlich
entschieden wurde, dass die Güter bis zur
Entscheidung durch ein königliches Urteil in den Bann
gestellt werden (undatierte notitia aus der Zeit ab
816; StiA SG, Privaturkunden, Bremen 22; Wartmann,
Theil II, S. 395 (Anh. Nr. 18). Schneider,
S.
244, hegt gewisse Zweifel am Inhalt der notitiaund
hält es
für möglich, dass die Verhandlung erfunden wurde. Er
sieht dies im Zusammenhang mit dem bekannten Eifer des Abtes Gozbert, den
klösterlichen Besitz zu vermehren.
26 StiA SG,
Privaturkunden,
Bremen 26; Ernst,
S. 36 f. und 44 und Schneider,
S. 259. Es wird in Zweifel gezogen, dass es sich bei der
genannten Wohnung und Kapelle um die Zelle des Ratpot gehandelt habe
und Landpreht damit Nachfolger Ratpots gewesen sein müsste,
wie Baumann,
Geschichte des Allgäus, Band I, S. 103, 156, 169, 203, annahm.
27 Urkunde von 861 April 24, überliefert durch
Transkription bei Goldast,
Melchior: Alamannicarum rerum scriptores aliquot vetusti, in 2 partes
tributus a quibus Alamannorum, qui nunc partim Suevis, partim Helvetiis
cessere, historiae tam saeculares quam Ecclesiasticae ... perscripta
sunt. Band II. Frankfurt am Main 1606, S. 36 Nr. 5 (Wartmann,
Theil II, S. 98 (Nr. 482); die Urkunde ist verloren!): […]
vt annis singulis ad Cellam Ratpoti, quae ad monasterium S. Galli
pertinet, in censu IIII denarios soluant […].
Urkunde von
868 im StiA SG, Privaturkunden,
III 300 (868 Mai 5; Wartmann,
Theil II, S. 150 (Nr. 537): […] et
hic census ad missa[m] s[an]c[t]i martini confessoris xp[christ]i in
ratpotiscella reddatur […]. Schneider, S.
252 f. und Oberholzer,
S. 227 interpretieren den Ausdruck ad missam sancti martcini
als eine am Fest des Heiligen Martin gefeierte Messe, während Ernst, S. 37
dies als gleichbedeutend mit der Zelle, als
„Inbegriff der Heiligenpflege oder Kirchenfabrik des
Kißlegger Kirchleins” sieht. Für ihn
leitet sich daraus ab, dass die Kirche dem Heiligen Martin geweiht war.
31 Hierzu auch Erhart etc.,
S. 40 und 74 ff.: Schenkungen an das Kloster St. Gallen waren in zwei
dokumentierten Fällen 826/828 und 849 mit
Gegenleistungen in Form einer Unterhaltsverpflichtung in der cella
Ratpoti verbunden (826/828: Nahrung und Kleidung, wie sie
einem Mönch gebührt, für die Tradentin
Rachilt und auf Wunsch auch für ihre Mutter; 849: Wohnplatz
und Mönchspfründe bei Verzicht auf die
Nutznießung des von Priester Landpreht an St. Gallen
tradierten Gutes für dessen Nichte Diotpirc). "Über
den Charakter von Ratpots Gründung lässt sich kaum
etwas aussagen, doch muss sie neben Wohn- und Wirtschaftsbauten einen
Sakralbau umfasst haben." Siehe StiA SG, Privaturkunden, II 82 und
Bremen 26.
32 Haid,
Wilhelm: Liber taxationis ecclesiarum et beneficiorum in diocesi
Constantiensi de anno 1353. In: Freiburger Diözesan-Archiv 5
(1870) S. 1-118. Freiburg 1870, S. 16.
33 Ernst, S. 40
f.; Schneider,
S. 239; StiA SG, Privaturkunden, II 52 und II 55 (beide von 824) und
III 174 (von 847/848). Im Jahre 861 befand sich diecellanachweislich
im Besitz St. Gallens: Wartmann,
Hermann: Urkundenbuch
der Abtei Sanct Gallen. Theil III. Jahr 920 - 1360. St.
Gallen, 1882,
S. 98, Nr. 482 (Urkunde von
861, nicht mehr vorhanden!): Wolaliub gibt zwei Hörige frei
unter der Bedingung, dass sie jährlich […
] ad Cellam Ratpoti, quae ad monasterium sancti Galli pertinet [...],
4 Denar Zins entrichten.
34 Rauh, Dr.
Rudolf: Württembergische Archivinventare, 24. Heft: Archiv
Kißlegg und Archiv Ratzenried. Stuttgart
(Kohlhammer) 1953, S. 1
37
StiA
SG, Privaturkunden, FF3
T1.Transkription
in: Wartmann, Theil III, S. 39 (Nr. 824) sowie StiA
SG, Privaturkunden, FF5
K7 undStiftsbibliothek
St.
Gallen, cod. sang. 456 und Stiftsbibliothek St. Gallen, cod. sang. 547,
p. 414. Transkription in Wartmann, Theil III, S. 747 und 757 (Nr. 59).
Außerdem Stiftsbibliothek St. Gallen, cod. sang.
390, p. 4.)
38
Hauptstaatsarchiv
(HStA)
Stuttgart, B 522 I (Benediktinerkloster Weingarten), U 28
(Verzichtserklärung der Katharina von Rosenberg auf
ihre Rechte an dem Gut auf den Sumern).
39 Bestand
Kißlegg im Fürstl. Waldburg-Zeil'schen Gesamtarchiv
Schloss Zeil (ZAKi), U 12 (Verleihung des Marktrechts und der
Gerichtsbarkeit an die Herren von Schellenberg); Rauh, S. 1.
40 Bestand
Kißlegg im Archiv der Fürsten zu Waldburg-Wolfegg
und Waldsee, Schloss Wolfegg (WoKi) 1673 f. (Stiftungen der Katharinen-
und der Marienkaplanei in Kißlegg).
41 HStA Stuttgart,
Bestand
B 216 (Reichsstadt Wangen), U 258 (Stiftung der
Frühmesskaplanei 1450).
42 HStA Stuttgart,
Bestand
B 465 (Franziskanerinnenkloster Kißlegg), U 2 (Stiftung eines
Zinses an Mutter und Schwestern in der Klause zu Zell im Dorf
bei Kißlegg durch Marquart von Schellenberg).
43 ebda, Bü 1
(Urkundenregesten des Klosters Kißlegg), Regest Nr. 7
(Zinsverkauf des Marquard von Schellenberg an Hans und Michael Burger
zu Kisleggzell im Dorf).
44 ebda, U 4
(Zinsverkauf
des Hans und Michael Burgender zu Kisleggzell im Markt an Mutter und
Schwestern der Sammlung des Hauses der Klause zu Kisleggzell im Markt).
46 HStA Stuttgart,
Bestand
B 523 (Kloster Weißenau), U 3074 (Manumissionsbrief des Hans
Ulrich von Schellenberg zu Kißlegg und Waltershofen
für Christoph Müller zu Kißleggzell).
47
StiA
SG, Privaturkunden, FF3
T1 und in FF5 K14.Transkriptionen
in: Wartmann, Theil III, S. 39 (Nr. 824), und S. 814 f
(Nr. 79).
48 Rappmann, Roland und Zettler, Alfons: Die Reichenauer
Mönchsgemeinschaft und ihr Totengedenken im
frühen Mittelalter (Archäologie und
Geschichte: Freiburger Forschungen zum ersten Jahrtausend in
Südwestdeutschland, Band
5). Heidelberg 2019, S.
6, 490-491; Zentralbibliothek Zürich, Bestand Rh. hist 28,
Kat. 566.
49 Jüngeres
St.
Gallener Totenbuch; vgl. Ernst,
S. 51
51 Gesamtarchiv der
Fürsten zu Waldburg-Wolfegg, Schloss Wolfegg, WoBai U II und
III.
52
Generallandesarchiv
Karlsruhe, Signatur 67/500, fol. 216 v. (Kopie 15. Jh.) Druck:
Thurgauisches Urkundenbuch, 410 Nr. 121 [zitiert nach: Bradler, Ministerialität,
S. 148] und Codex Diplomaticus Salemitanus 1, Nr. 317 [zitiert nach: Bradler, Ministerialität,
S. 149].
53 Stiftsarchiv St.
Gallen,
Züricher Abt. 6, früher Staatsarchiv Zürich;
Transkription in Wartmann,
Theil III, S. 173 f. (Nr. 976) und Stiftsarchiv St.
Gallen, Bücherarchiv, cod. 1262, S. 73; Transkription in Wartmann,
Theil III, S. 223, Nr. 1025.
54
Generallandesarchiv
(GLA) Karlsruhe; siehe Wartmann,
Theil IV, S. 1010 (Anhang Nr. 116) sowie und GLA Karlsruhe, 4/7442;
siehe Württembergisches Urkundenbuch Band VII. Stuttgart 1900,
Seite 340-341 (Nr. 2463), Bradler,
Ministerialität, S. 149.
55 Beide bei Bradler,
Ministerialität, S. 149; Codex diplomaticus Salemitanus.
Urkundenbuch der Cisterzienserabtei Salem, Band 2, Karlsruhe 1883, S.
109-111, Nr. 509.
56 Büchel,
Regesten zur Geschichte der Herren von Schellenberg, Teil I (1901), Nr.
27-30.